Die Lebens- und Arbeitssituation für Menschen mit Beeinträchtigungen weisen zwar spezifische Rahmenbedingungen der gesundheitlichen Ungleichheit auf, sind jedoch häufig von Aktivitäten und Methoden der Betrieblichen Gesundheitsförderung exkludiert. Ein innovatives BGF-Projekt aus Österreich leistet Abhilfe.
by Gert Lang & Karina Lattner
Menschen mit Beeinträchtigung stellen eine vulnerable Zielgruppe dar, weil sie allgemein weniger gesund, häufiger chronisch krank sind und öfter unter Begleiterkrankungen leiden sowie einen komplizierteren Krankheitsverlauf mit insgesamt geringerer Lebenserwartung aufweisen als Menschen ohne Beeinträchtigungen. Einrichtungen der Behindertenhilfe weisen darüber hinaus ein hohes Belastungspotenzial für ihre Mitarbeiter auf, insbesondere im Bereich der psychosozialen Belastungen.
Schritte zur integrativen betrieblichen Gesundheitsförderung
Umfassende Gesundheitsförderung hat sich bereits in vielen Betrieben etabliert. In Einrichtungen der Behindertenhilfe wurden bereits BGF-Projekte auf Ebene der Mitarbeiter umgesetzt. Der übliche BGF-Ansatz lässt sich jedoch nur bedingt auf alle Zielgruppen dieses Settings übertragen und das Potenzial von BGF kann bei Menschen mit besonderen Bedürfnissen nicht abgeschöpft werden. Im Projekt „Gesundheit inklusiv“ wurden Methoden der Betrieblichen Gesundheitsförderung für ein partizipatives, inklusives Setting angepasst und erprobt, sodass sowohl Mitarbeitende mit kognitiver und / oder körperlicher Beeinträchtigung wie auch Mitarbeiter ohne Beeinträchtigung im Prozess der Betrieblichen Gesundheitsförderung auf Augenhöhe zusammenarbeiten können.
Auf Basis etablierter Prinzipien Betrieblicher Gesundheitsförderung (ENWHP, 1997) und Qualitätskriterien (ÖNBGF, 2021) wurden im Zuge des Projekts die Verwendbarkeit typischer BGF-Methoden und Instrumente überprüft und an die speziellen Bedürfnisse der Zielgruppe Menschen mit Beeinträchtigung angepasst. Besonderer Schwerpunkt lag dabei zum einen auf der Teilhabe an partizipativen Prozessen sowie der Einbeziehung der Sichtweise aller Betroffenen und zum anderen auf den besonderen Kommunikationsbedürfnissen von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. Rücksicht genommen wurde z.B. durch ein zugängliches Sprachniveau in leichter Sprache, geeignete Methodenauswahl etc. Daher wurde im Zuge des Projekts zum Beispiel ein niederschwelliger Fragebogen in leichter Sprache und ein Beobachtungsbogen entwickelt sowie Methoden im Rahmen von Gesundheitszirkeln an die Bedürfnisse der Zielgruppen angepasst.
Pilotierung
Die Erprobung der Methoden und Instrumente erfolgte im Zeitraum von 2018 bis 2020 am Kompetenznetzwerk KI-I und in drei Werkstätten des Diakoniewerkes Gallneukirchen in Oberösterreich. Es handelt sich dabei um jeweils Betriebe mit insgesamt fast 120 Beschäftigten, mehrheitlich mit Beeinträchtigungen. Das Projekt wurde begleitend von einem externen Kooperationspartner:innen nach wissenschaftlichen Kriterien evaluiert und durch einen Fachbeirat mit Expertinnen und Experten begleitet.
Lernerfahrungen
Zu den zentralen Lernerfahrungen des Projekts zählt, dass sich die in den BGF-Prozess implementierte Sensibilisierungsphase als sehr förderlich für die inklusiven BGF-Prozesse erwiesen hat und bei zukünftigen Anwendungen auch beibehalten werden sollte. Für eine partizipative Arbeitsweise ist es auch unbedingt nötig alle Dokumente, Präsentationen und Medien bestmöglich an die Bedürfnisse der Menschen mit Beeinträchtigungen anzupassen. Eine intensive Zusammenarbeit, Rücksprache und Reflexion mit der Zielgruppe ist dabei unumgänglich. Daraus ist ein erhöhter Bedarf an zeitlichen Ressourcen abzuleiten, wie z.B. für die Aufbereitung der Unterlagen, Medien und Materialien für die Zielgruppe sowie für die Durchführung von Besprechungen und Präsentationen oder für die Moderationsvorbereitung.
Ein Leitfaden zur inklusiven betrieblichen Gesundheitsförderung
Die Ergebnisse wurden in einem Leitfaden gesammelt bzw. zusammengefasst (Lattner et al., 2021). Dieser Leitfaden steht in publizierter Form nun der Fachöffentlichkeit in Form eines FGÖ-Wissensbandes frei zur Verfügung und wurde in „Leicht Lesen, Verständlichkeitsstufe B1“ verfasst. Auf der Webseite zum Projekt können zusätzlich vielfältige Materialien (z. B. Checklisten für Mitarbeitende mit hohem Unterstützungsbedarf, Video zum Thema Gesundheit, Spielmaterialien wie zum Determinanten-Modell und zu Stufen der Partizipation) zur weiteren Verwendung in deutscher Sprache bezogen werden. Der Leitfaden als auch die Website wurden barrierefrei gestaltet. Damit wird gewährleistet, dass die Ergebnisse für die Umsetzung inklusiver BGF auch in anderen Einrichtungen mit Beschäftigten mit kognitiver oder körperlicher Behinderung durchgeführt werden können.
Die Ergebnisse des innovativen Projekts sind wegweisend für die weitere Qualitätsentwicklung in der BGF und stellen einen erfolgsversprechenden Beitrag zu mehr gesundheitlicher Chancengerechtigkeit für Mitarbeitende mit Beeinträchtigung dar. Die beteiligten Betriebe des Projekts wurden 2021 vom Österreichischen Netzwerk BGF mit dem BGF-Gütesiegel ausgezeichnet, bei dem Ansätze nach 15 Qualitätskriterien der BGF begutachtet werden.
Das Projekt wurde unterstützt durch
- Fonds Gesundes Österreich,
- Österreichisches Netzwerk BGF,
- Österreichische Gesundheitskasse,
- Gesundheitsland Oberösterreich,
- Sozialland Oberösterreich und
- Arbeiterkammer Oberösterreich.
Weitere Informationen
Homepage des Projekts: https://www.ki-i.at/projekte/projekt-detail/gesundheit-inklusiv
FGÖ-Wissensband: https://fgoe.org/sites/fgoe.org/files/2021-10/WB_20_gesundheit_inklusiv_bfrei.pdf
Literatur
ENWHP. (1997). Luxembourg Declaration on Workplace Health Promotion in the European Union. Retrieved 18.09.2021 from www.enwhp.org
Lattner, K., Peböck, B., & Bäck, M. (2021). Leitfaden für inklusive Betriebliche Gesundheits-Förderung. Linz: Fonds Gesundes Österreich, Gesundheit Österreich.
ÖNBGF. (2021). Die 15 Qualitätskriterien des Österreichischen Netzwerk Betriebliche Gesundheitsförderung. Retrieved 10.11.2021 from http://www.netzwerk-bgf.at/